Während ganz Europa weitestgehend geschlossen hinter der Ukraine steht, gibt es einen Ausreißer, der immer wieder Entscheidungen verzögert oder gar blockiert: Ungarn. Unter der Führung von Viktor Orban, der 2022 zum fünften Mal wiedergewählt wurde, verfolgt das Land eine eigenständige und oft kontroverse Außenpolitik. Ungarn beteiligt sich weder an den Sanktionen gegen Russland noch stoppt es den Import von russischem Öl. Orban bezeichnet den russischen Präsidenten Wladimir Putin offen als engen Freund und gestaltet das Land weiter nach seinen Vorstellungen um. Ein bedeutendes Puzzleteil dabei stellt die Ukraine dar, denn Orban beansprucht nicht nur politischen und wirtschaftlichen Einfluss, sondern sieht sich auch als Schutzpatron der ungarischen Minderheiten im Ausland, insbesondere in der Ukraine.

Ungarn, einst eine der mächtigsten Monarchien Europas, erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen tiefgreifenden territorialen Verlust. Mit dem Vertrag von Trianon im Jahr 1920 verlor das Land über zwei Drittel seines Territoriums und etwa 60% seiner Bevölkerung an die umliegenden Staaten. Diese historische Demütigung prägt die ungarische Gesellschaft bis heute und nährt revanchistische Forderungen nach einer Rückgewinnung der verlorenen Gebiete. Orban macht sich diese Stimmung zunutze und verfolgt eine Politik, die zwischen Russland und der Europäischen Union balanciert, um im Falle eines Sieges beider Seiten zu profitieren.

Aktuell bereitet sich Ungarn besonders für ein Szenario vor, in dem Russland siegt. Als enger Verbündeter Putins könnte Ungarn dann lang gehegte Pläne in die Tat umsetzen und damit die europäische Landkarte erneut verändern. Doch warum fordert Ungarn diese Territorien zurück und um welche Gebiete handelt es sich konkret?

Historische Wurzeln der Territorialforderungen

Ungarn war einst eine zentrale Macht in Europa, besonders während der Zeit des Königreichs Ungarn und später in der österreich-ungarischen Doppelmonarchie. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Vertrag von Trianon im Jahr 1920 verlor Ungarn jedoch mehr als zwei Drittel seines Territoriums und einen Großteil seiner Bevölkerung an die umliegenden Staaten. Dies gilt bis heute als tiefe Demütigung und Trauma in der ungarischen Gesellschaft.

In den 1930er Jahren rüstete Ungarn seine militärischen Kapazitäten massiv auf und stellte Ansprüche auf seine Nachbarstaaten. Ungarn arbeitete dabei eng mit Deutschland zusammen, das Ungarn als deutschfreundlichen Vorposten in Südosteuropa ansah. Die Annexion von Gebieten begann 1938 mit dem sogenannten Ersten Wiener Schiedsspruch, bei dem Gebiete mit ungarischer Bevölkerungsmehrheit in der südlichen Slowakei und in der Karpaten-Ukraine abgetrennt und Ungarn zugesprochen wurden.

Die Rolle Ungarns im Zweiten Weltkrieg

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs annektierte Ungarn weitere Gebiete in Rumänien und Jugoslawien. Die Zusammenarbeit mit den Achsenmächten führte jedoch nach der Niederlage bei der Schlacht von Stalingrad zu einem Umdenken. Ungarn versuchte, die Seiten zu wechseln und in das Lager der Alliierten einzutreten, doch dieser Plan wurde vom deutschen Geheimdienst entdeckt. Daraufhin marschierten deutsche Truppen in Ungarn ein und zwangen das Land weiter für die Achsenmächte zu kämpfen.

Die Niederlage der Achsenmächte führte dazu, dass Ungarn alle zuvor eroberten Gebiete wieder verlor und unter sowjetischen Einfluss geriet. Trotz dieser Verluste wurden revanchistische Gedanken in der ungarischen Gesellschaft durch die weiche Behandlung nach dem Krieg weiter verstärkt. Viele Ungarn sahen sich nicht als Aggressoren, sondern als Opfer der Manipulationen Hitlers, und die erneute Verkleinerung des Landes wurde als tiefe Demütigung empfunden.

Orbans Politik und die Ukraine

Mit dem Aufstieg Viktor Orbans verschlechterte sich das Verhältnis zur Ukraine zunehmend. Als Orban 2010 Ministerpräsident wurde, änderte sich seine zuvor gemäßigte Haltung. Besonders das ukrainische Sprachengesetz von 2017, das Ukrainisch ab der fünften Klasse zur vorgeschriebenen Unterrichtssprache machte, führte zu heftigen Reaktionen. Diese Maßnahme sollte eigentlich die russische Einflussnahme eindämmen, traf aber auch die ungarische Minderheit in der Ukraine. Orban sah dies als Affront und blockierte fortan jegliche Integrationsbemühungen der Ukraine in die NATO und die Europäische Union.

Innenpolitisch sichert sich Orban die Loyalität der rechtsextremen Wähler, indem er die Rückgabe der Karpaten-Ukraine fordert und sich immer wieder mit Symbolen des Großungarns zeigt. Besonders die rechtsextreme Partei „Unsere Heimat“ unterstützt diese Forderungen und erklärt, dass Ungarn Anspruch auf westliche Regionen der Ukraine erheben sollte, falls die Ukraine ihre Staatlichkeit verlieren sollte.

Revanchismus und die Gefahr für Europa

Diese revanchistischen Gedanken sind nicht nur auf Ungarn beschränkt. Auch in anderen europäischen Ländern wie Rumänien werden ähnliche Forderungen laut. Dort fordern rechte Politiker die Annexion ukrainischer Gebiete und die Vereinigung mit der Republik Moldau. Diese Entwicklungen verdeutlichen, wie gefährlich ein russischer Sieg in der Ukraine für die europäische und globale Sicherheit wäre.

Ein solcher Sieg könnte den stillen Konsens der letzten Jahrzehnte, territoriale Streitigkeiten friedlich zu lösen, aufbrechen und eine Ära einleiten, in der das Recht des Stärkeren gilt und Kriege wieder an der Tagesordnung sind. Die Forderungen Ungarns nach territorialer Erweiterung sind somit nicht nur eine innenpolitische Strategie Orbans, sondern stellen eine ernsthafte Bedrohung für die Stabilität Europas dar. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Lage weiterentwickelt und ob die europäische Gemeinschaft einen Weg finden wird, diese revanchistischen Tendenzen zu bändigen.

Ungarns Territorialforderungen und die damit verbundene Politik Orbans stellen eine komplexe Herausforderung dar, die tief in der Geschichte des Landes verwurzelt ist. Die Revanchismus-Träume vieler Ungarn, genährt durch historische Demütigungen und aktuelle politische Strategien, gefährden die europäische Einheit und Stabilität. Ein russischer Sieg in der Ukraine könnte diese gefährlichen Bestrebungen weiter anfachen und die Welt in eine neue Ära von Konflikten und territorialen Auseinandersetzungen führen. Die europäische Gemeinschaft muss daher Wege finden, um diesen revanchistischen Tendenzen entgegenzuwirken und die langfristige Sicherheit und Stabilität in Europa zu gewährleisten.